Kompetenzen und Bildung

In Fachdidaktikbüchern, in Lehrplänen, in bildungspolitisch ausgerichteten Magazinen, in Zeitschriften, im Fernsehen und auch im schier allwissenden ( sicherlich jedoch: allbesserwissenden) Internet werden sie bewundernd herumgereicht und als Rettung des Bildungswesens präsentiert: Kompetenzen. Nach den Schlüsselqualifikationen wie Teamfähigkeit und freiem Sprechen, die mittlerweile schon ein wenig nach letztem Jahrhundert müffeln, sind die Kompetenzen jetzt das next big thing. Warum eigentlich?

Kleine Schritte – wie wir Ziele setzen

Wenn ein Problem zu groß wird, zerlegt man es so lange in kleinere Einheiten, bis man einen Einstieg gefunden hat. Einen Ansatzpunkt oder einen Hebel. Statt das ganze Haus putzen zu müssen, schauen wir uns die Sache an, und fangen irgendwo an. Vielleicht mit den Fenstern, damit etwas mehr Licht hineinkommt. Genau so funktionieren auch Kompetenzen, wenn man die Sache etwas entspannt angeht: Kleine Schritte auf dem Weg zum Ziel. Babysteps. Kleine Teile eines größeren Ganzen.

Eine entspannte Vorgehensweise also?

Schon beim großen Ziel des gesamten Bildungswesens wird es für Theoretiker etwas schwierig: Was soll Schule überhaupt? Das zu beantworten gelingt oft ganz wortgewaltig mit Schlagworten wie Erziehung, Sozialisation, Vorbereitung, Persönlichkeitsbildung und Wissenserwerb. Je nach politischem Lager und Weltanschauung wird die Liste dann aber ergänzt, gekürzt, gewichtet oder auch komplett über den Haufen geworfen.

Ein großer Erziehungsauftrag für alle – das soll herauskommen. Für alle Menschen, unabhängig von ihren Interessen und ihrer Begabung soll in einem Schulwesen genau dieser Auftrag umgesetzt werden. Na gut, dann muss dieses Schulwesen eben unterteilt werden. In Altersstufen, in Schularten, in Unterrichtsfächer. Schon sieht der Auftrag deutlich einfacher aus.

Statt aus Klausi einen allgemein guten Menschen zu machen, soll er nur zwischen 11.15h und 12.00h neun Enlischvokabeln zum Bereich Autoreparatur lernen, sprechen, lesen, schreiben, dabei etwas über die internationale Automobilindustrie und Landeskunde Amerika (Detroit) lernen und als Hausaufgabe ein kurzes Referat zu seinem Lieblings-US-Schlitten schreiben. Das sind übersichtliche Lernziele für Klausi, das sind handhabbare Wissenseinheiten.

Vermitteltes Wissen – in kleine Happen zerteilt und dann wieder zusammengesetzt, entstehen sie so, die Kompetenzen?

Second Thoughts – wer setzt die Ziele?

Was Schule vermitteln soll, darüber wird schon immer gern gestritten. Ein Bildungskanon wird ebenso gefordert wie ein Wertekanon oder ein verbindlicher Literaturkanon. Solche Diskussionen können nicht verkehrt sein, sind sie doch immer auch ein Ringen um die Fundamente unserer Kultur.

Auch wenn die Diskussionsteilnehmer gern unterschiedlicher Meinung sind, so ist allein der Diskurs selbst, welches Werk von Goethe etwa besonders typisch oder herausragend ist, ob das Allgemeine oder das Besondere betont werden soll, wertvoll und interessant.

In den Tagungsräumen und Büros der Kultusministerien werden die Ziele in verbindlichen Lehrplänen festgeklopft. Der Prozess der Themenfindung findet nur wenig öffentliches Interesse; ob der Nachwuchs in der fünften Klasse mit Karton oder Papier faltet, wann genau die binomischen Formeln gelernt werden sollen, und ob erst im zweiten Lernjahr die Vergangenheitsformen der Fremdsprache gelernt werden sollen, ist dem Durchschnittsbürger sicher auch nicht allzu wichtig.

Auf der anderen Seite schalten sich neben den mehr oder weniger selbsternannten Gralshütern unserer Kultur auch gern Menschen mit handfesten wirtschaftlichen Interessen in die Diskussion ein; in rhetorisch geschultem Marketing-Slang formulieren sie ihre Forderungen an das Bildungssystem. Unternehmerverbände, Wirtschaftsverbände. Mit entsprechenden Öffentlichkeitsarbeitsabteilungen, guten Verbindungen zu Presse und Politik und nicht zuletzt dem nötigen finanziellen Background verschaffen sie ihren Ideen und Idealen Gehör: Der junge Mensch soll fit für den Job werden.

Die Wirtschaftsverbände erzählen allen, die es hören oder drucken wollen, welches Kompetenzen ihrer Meinung nach im Berufsleben unabdingbar und welche Kenntnisse zunächst einmal vernachlässigbar sind.

Third Thoughts – wozu braucht die Industrie Kompetenzen?

Da nun die OECD viel Geld auf Pisa-Studien verwendet, die die einzelnen Kompetenzen der Schüler international vergleichbar macht, müssen offensichtlich handfeste ökonomische Gründe dahinterstecken. Es muss ein Interesse daran vorliegen, dass alle Schüler vergleichbar sind und dass in allen Ländern nach ähnlichen Standards unterrichtet wird.

Wenn überall die jungen Arbeitnehmer die gleichen Voraussetzungen mitbringen, dann ist auch egal, wo Güter produziert werden. Wenn überall weltweit alle jungen Arbeitnehmer ähnliche Texte lesen würden, ähnliche Musik hören, dann könnte man auch allen Menschen ähnliche Produkte verkaufen. Die ersten Vorteile für die produzierende Industrie liegen auf der Hand.

Viele der Kompetenzen, die uns kleinteilig aus Bildungstests und Lehrplanreformen angrinsen, sind auch ohne die Industrie als Abnehmer der Bildungsinstitutionen durchaus sinnvoll: Lesefähigkeit. Rechnen. Räumliches Vorst…

Moment.

Da war doch gerade so ein Satz.

Ein seltsamer Satz. Einer, der häufig fällt.

Ah, der: Die Industrie als Abnehmer der Bildungsinstitutionen. Schulen als Zuarbeiter der Wirtschaft? Lehranstalten als Wirtschaftsmotor? Vielleicht ist hier eine der Motivationen der Industrie zu sehen, sich für den Bildungssektor zu interessieren: In der Öffentlichkeit wird so die Wirtschaft als das zentrale Gut unserer Gesellschaft dargestellt.

Third Thoughts (again) – worauf verzichten wir zugunsten von Kompetenzen?

Nur weil die Industrie einen Vorteil sieht, muss noch lange kein Nachteil auf einer anderen Seite entstehen. Dann sind unsere Schüler am Ende ihrer Schullaufbahn eben perfekt für das Berufsleben vorbereitet, und können jederzeit den Vergleich mit Indern, Finnen oder Amerikanern aufnehmen, mit denen sie im Wettbewerb um Arbeitsplätze stehen.

Freiheit ist Grundlage und gleichzeitig Ziel der Bildung, so sah es Wilhelm von Humboldt. Bildung soll unabhängig sein von Politik und Wirtschaft, und Bildung soll dem Menschen helfen, eine positive Haltung zur Welt, Natur und zur Kultur zu entwickeln.

Bildung ist keine Kompetenz. Bildung lässt sich nicht klein-teilen, da Bildung mehr ist als die Summe ihrer Bestandteile.

Wenn wir ausschliesslich auf die einfach abprüfbaren und vergleichbaren Kompetenzen schauen, gerät die Bildung ins Hintertreffen. Wenn wir jedoch nur Bildung um der Bildung wegen vermitteln, lernen unsere Kinder nicht für’s Leben sondern für die Schule.

Ein Spagat.

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